Von 2006 bis 2009 führte die Staatsbibliothek zu Berlin gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für Geschichte (später: MPI für Wissenschaftsgeschichte) ein von der Fritz Thyssen Stiftung und mit Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördertes Forschungsprojekt durch:
Das Ziel war die umfassende Aufklärung der institutionellen Strukturen und bibliothekarischen Abläufe unter rechtlichen und finanziellen Aspekten sowie in Hinsicht auf die Handlungsspielräume der beteiligten Akteure und die politische Dimension der Vorgänge.
Aus diesem Forschungsprojekt ist eine umfangreiche Studie der Projektbearbeiterin Dr. Cornelia Briel hervorgegangen. Diese Studie ist 2013 im Akademie Verlag erschienen.
Die durch zahlreiche Register erschlossene, materialreiche Publikation behandelt den Themenkomplex „Reichstauschstelle / Preußische Staatsbibliothek“ grundlegend und kann als Referenzwerk für weitere Recherchen zum Thema NS-Raubgut dienen, sowohl in der Staatsbibliothek zu Berlin als auch in anderen Bibliotheken.
Ausgewertet wurde ein außerordentlich breites Quellenspektrum: neben der archivalischen Überlieferung in der Staatsbibliothek selbst auch die einschlägigen Bestände des Bundesarchivs, des Geheimen Staatsarchivs, des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes, des Landesarchivs Berlin, des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Potsdam sowie des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden und des Staatsfilialarchivs Bautzen.
Erstmals konnten auch die Akten der Erwerbungsabteilung der Preußischen Staatsbibliothek aus dem Zeitraum 1938-1945 herangezogen werden, die von der nach Hirschberg (heute: Jelenia Góra) in Niederschlesien ausgelagerten Dienststelle im Sommer 1945 den polnischen Behörden übergeben wurden und heute in der dortigen Außenstelle des Staatsarchivs Breslau (Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Oddział w Jeleniej Górze) aufbewahrt werden.
Die Forschungen haben gezeigt, dass sowohl die Preußische Staatsbibliothek als auch die Reichstauschstelle im Zentrum eines Netzwerkes standen, durch das erhebliche Mengen der bei so genannten Reichsfeinden und jüdischen Verfolgten beschlagnahmten Literatur an wissenschaftliche Bibliotheken und andere Einrichtungen im Reich verteilt wurde.
Neu ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, in welchem Maße beide Einrichtungen seit etwa 1936 in Konkurrenz zu NS-Einrichtungen und genuinen NS-Rauborganisationen (wie diversen SS-Institutionen oder dem Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg) standen, gegen die sie sich bei der Akquisition enteigneter und beschlagnahmter Literatur trotz einschlägiger Erlasse des Reichsfinanzministeriums letztlich nicht behaupten konnten.
Themenkomplex „Reichstauschstelle“
Wegen der langjährigen räumlichen Nähe im Bibliotheksgebäude Unter den Linden und der personellen Verflechtungen im Leitungsbereich wurde die Reichstauschstelle in der zeitgenössischen Außenwahrnehmung diffus der Preußischen Staatsbibliothek zugeordnet. Sie war jedoch zu keinem Zeitpunkt eine Abteilung der Preußischen Staatsbibliothek.
Die 1926 eingerichtete Reichstauschstelle gehörte zum Aufgabenspektrum des Bibliotheksausschusses der 1920 gegründeten Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Im Zuge der seit 1933 von ihrem Präsidenten, dem Physiker Josef Stark, betriebenen „nationalsozialistischen Erneuerung“ trennte sich die Notgemeinschaft (die kurz darauf in „Deutsche Forschungsgemeinschaft“ umbenannt wurde) im Herbst 1933 von ihrem Bibliotheksausschuss.
Die drei aus dem Bibliotheksausschuss hervorgegangenen Institutionen Reichstauschstelle, Beschaffungsamt der Deutschen Bibliotheken und Deutsch-Ausländischer Buchtausch wurden verwaltungsmäßig dem Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek Hugo Andres Krüß unterstellt. Die Geschäftsführung oblag dem von der Preußischen Staatsbibliothek abgeordneten Bibliotheksrat Adolf Jürgens. Ab 1941 erlangte die Reichstauschstelle schließlich eine größere Eigenständigkeit, indem sie mit dem Beschaffungsamt zu einer Reichsbehörde vereinigt wurde.
Um die durch Kriegseinwirkung zerstörten Bestände der deutschen Bibliotheken zu ersetzen, erwarb die Reichstauschstelle Privatbibliotheken, antiquarische und verlagsneue Literatur im Deutschen Reich und in den von Deutschland besetzten Gebieten bis auf wenige Ausnahmen durch Kauf. Soweit möglich geschah dies allerdings unter Ausnutzung der von der deutschen Besatzungsmacht oktroyierten Wechselkurse. Die Reichstauschstelle bemühte sich auch um Dubletten, die durch die Beschlagnahme privater und kirchlicher Bibliotheken in den besetzten Gebieten konzentriert worden waren. Anhand der Akten zu den Bibliotheken in Luxemburg, der Stadtbibliothek Metz und der Staats- und Universitätsbibliothek Straßburg sowie der Büchersammelstelle Posen konnten die Hintergründe solcher Erwerbungen inzwischen aufgeklärt werden.
Im Deutschen Reich kaufte die Reichstauschstelle beschlagnahmte Bibliotheken und Buchbestände emigrierter oder deportierter jüdischer Deutscher, deren Eigentum von den Finanzbehörden „verwertet“ wurde.
Am Ende des Krieges beschäftigte die Reichsbehörde „Reichstauschstelle und Beschaffungsamt der Deutschen Bibliotheken“ über 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In ganz Deutschland und darüber hinaus legte sie im Rahmen des Wiederaufbauprogramms etwa 40 Depots an, in denen bis 1945 ca. 1.000.000 Bände eingelagert wurden.
Themenkomplex „Preußische Staatsbibliothek“
Im Verlauf der Recherchen kristallisierte sich heraus, dass nicht, wie bislang vermutet, die Reichstauschstelle eine Schlüsselstellung hinsichtlich der Verteilung von beschlagnahmter Literatur einnahm, sondern die Preußische Staatsbibliothek selbst. Nach jetzigem Kenntnisstand war die Reichstauschstelle nicht primär mit der „Verwertung“ von beschlagnahmten Bibliotheken betraut, sondern trat erst als sekundäre Verteilungsinstitution in Erscheinung, der die Preußische Staatsbibliothek dublette oder nicht gewünschte Titel aus beschlagnahmten Beständen überstellte.
Die Preußische Staatsbibliothek war durch den Erlass des Preußischen Finanzministeriums vom 27. März 1934 beauftragt und ermächtigt, aus der in Preußen beschlagnahmten Literatur vorrangig ihre eigenen Bestände zu ergänzen und die von ihr selbst nicht benötigten Exemplare vornehmlich an die deutschen Universitätsbibliotheken weiterzuleiten. Damit wurde die Erwerbungsabteilung der Preußischen Staatsbibliothek zum Zentrum eines Verteilungsnetzes, das sich auf mehr als 30 deutsche und österreichische wissenschaftliche Bibliotheken erstreckte.
In den Jahren 1938 und 1939 bestimmten Erlasse des Reichsfinanzministers die Preußische Staatsbibliothek erneut zur „zentralen Sammelstelle“ für die vor allem bei jüdischen Verfolgten beschlagnahmten Hebraica, Judaica sowie politischer und schöngeistiger Literatur. In dieser Funktion konkurrierte die Preußische Staatsbibliothek jedoch spätestens seit 1936 mit NS-Institutionen, die die Literatur politischer und weltanschaulicher Gegner für genuin nationalsozialistische Bibliotheksgründungen sammelten.
Zwischen 1941 und 1944 wurden der Preußischen Staatsbibliothek überdies von der Wehrmacht geraubte Bücher vor allem aus der Sowjetunion und aus Frankreich überstellt.
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